Wie man Chaos sponsert

Wie man Chaos sponsert

Florenz, 1478: Er hiess Leonardo und war «fattore» im Künstleratelier von Andrea Verrocchio. Verrocchio seinerseits gehörte zu den beliebtesten Künstlern, die Lorenzo de‘ Medici förderte und mit Aufträgen bedachte. Das Problem, das Verrocchio mit seinem «fattore» hatte, war, dass sich dieser zwar im Zeichnen und Malen als hochbegabt erwiesen hatte, aber partout lieber ein Ingenieur und Wissenschaftler sein wollte. So kam es, dass Verrocchio bei Lorenzo de‘ Medici vorstellig wurde und ihn bat, diesen 26jährigen, unbekannten Künstler doch mit einigen kleineren Arbeiten zu betrauen. Der Mäzen zeigte sich nicht abgeneigt. Ein Altarbild für die Privtkapelle der Signoria wurde an Leonardo in Auftrag gegeben. Die Vorauszahlung betrug fünfundzwanzig Gulden. Ein Betrag, von dem Leonardo ein ganzes Jahr lang leben konnte. Doch das Gemälde wurde, wie viele andere von da Vinci, nie fertig gestellt, ja nicht einmal seriös in Angriff genommen.

Gotthard, 2002: Rund 30 Menschen bewegen sich bei unwirtlichem Wetter auf steilen, schmalen Wegen unweit der Staumauer Lucendro. Mehr oder weniger gute Schuhe setzen Spuren ins feuchte Gras. Weisse Regenschirme setzen Akzente im Nebel. Die Gruppe folgt Jean Odermatt. Eine «szenische Begehung», bei der jeder Szenenhalt mit Wasser zu tun hat; physisch und metaphysisch. Unterwegssein als Teil eines Kunstwerkes. Relikt oder dokumentarischer Fixpunkt des Kunstwerkes von Jean Odermatt ist eine Metallplatte mit 17 Acrylglastafeln, acht davon enthalten Texte, die anderen Fotos. Das Ganze: Edition 2002 von Heads, 81 Exemplare, zusätzlich einige épreuve de artiste.

Die beiden Episoden könnten unterschiedlicher nicht sein. Hier weltweit bekannte Protagonisten: Leonardo da Vinci, Lorenzo de’Medici, Andrea Verrocchio. Da ein im internationalen Massstab weniger bekannter Künstler, Jean Odermatt, daneben mehrere Zeitgenossen sowie ein «Mäzen» namens Mike Stillhard, der in diesem Zusammenhang als Sprecher von Heads auftritt.

«Mäzen», der schamhaft in Anführungszeichen vermummte Begriff, ist der scheinbar einzige Konnektor der zwei Situationen. Doch auch er verlinkt nur unzulänglich. Denn erstens wird Heads keine Künstlerin oder keinen Künstler in der Klasse eines Leonardo da Vinci beauftragen können, zweitens sind bisher ausnahmslos alle in Auftrag gegebenen Werke in der Edition Heads auch fertig gestellt worden, und drittens hat Heads kaum das Kapital, um einem beauftragten Künstler einen Jahreslohn zu offerieren.

Lorenzo de’Medici war ein klassischer Mäzen, wie sein Vorfahr Cosimo, wie auch Gaius Clinius Maecenas, jener römische Edelmann, der Vergil, Horaz und andere Literaten unterstützte. Sein Name wurde zum Programm und wird heute benutzt, wenn es um Mäzenatentum von Merian, Schmidheiny, Reinhart, Sacher, Vontobel und vielen anderen gut dotierten Familien geht, welche Kunst sammeln und Künstler fördern.

Heads will in diesem Sinne kein Mäzen sein. Die in Auftrag gegebenen Werke unterstehen nicht den wichtigsten Zielsetzungen des Mäzenatentums. Dort geht es ums Sammeln von Gütern. Es geht um den Status, Persönlichkeiten zu unterstützen, die von anderen zu wenig gewürdigt werden. Es geht auch um das Privileg, Wünsche an den Künstler heranzutragen, Aufträge zu erteilen, die für einen bestimmten Ort oder für eine bestimmte Gelegenheit Gültigkeit haben. Das alles kann für sich genommen durchaus Sinn machen.

Doch es geht an den Intentionen von Heads vorbei. Für Heads bedeutet ihre Edition Kapital im Sinne von Beuys. «Kunst ist Kapital» hat Joseph Beuys einmal gesagt. Er verstand das im radikalen Sinne als Ressource, aus der sich Neues, Anderes und Unvorhersehbares entwickeln soll. Aber auch in Anspielung auf Karl Marx als ein Kapital, das allen zur Verfügung stehen soll.

Wenn Kunst, wenn Kreativität allen zur Verfügung stehen soll, als Ressource und Kapital, dann ist sie dem Chaos nahe. Die Edition von Heads ist eher am Rand des Chaos als im Zentrum des Mainstreams. Sie muss weder verkäuflich sein, noch einen Preis gewinnen. Sie muss weder ein Schmuck für einen Raum noch eine Pfauenfeder für die Kommunikations-Agentur Heads sein.

Die Künstler, die von Heads mit einem schmalen Budget angefragt werden, haben nur drei Vorgaben: Ein Werk zu schaffen, das sich 81 Mal vervielfältigen lässt; ein Werk zu schaffen, das im Rahmen des Budgets realisierbar ist; ein Werk zu schaffen, das originär für sie ist. Das kann für alle Beteiligten sehr verunsichernd werden.

Claudia Bezzola zum Beispiel konnte sich lange Zeit nicht mit dem Gedanken anfreunden, eine serielle Arbeit zu produzieren. Ausserdem war sie es gewohnt, selbst mit Hand anzulegen oder zumindest den Realisationsprozess ganz direkt zu überwachen. Ihr «Konnektor-Suit» wurde in Chinatown, New York, gefertigt. Viele Teile mussten zurückgewiesen, manche ein drittes Mal überarbeitet werden. Sie entsprachen nicht ihrem Grad von Perfektion.

Bei Romuald Etter war es das Volumen, das Verunsicherung erzeugte. Im Rahmen der Edition Heads schuf er erstmals ein «gewichtiges Werk». Die dreifachen, schweren, geätzten Glasscheiben konnten nicht einfach verschickt werden. Man brachte sie persönlich bei den Empfängern vorbei. In mancherlei Beziehung ein Eintritt in die Privatsphäre.

Die Auseinandersetzung mit einem Objekt, das man weder bestellt, noch – jedenfalls in den ersten Jahren – erwartet hatte, ruft förmlich nach Irritation. Was ist das für ein Instrument, das unter dem Titel «Time is not on your side» von Jan Dudesek da ins Haus kommt? Kunst, ach so!? – Wenn die Kunst noch mit der Künstlichkeit des Materials spielt, wie beim «Gewand der Zeit» von Rut Himmelsbach, kann es schon vorkommen, dass dieser vermeintliche alte Linoleumteppich in der Baumhütte des Sohnes Verwendung findet…

Die Irritation ist begründet. Und sie ist beabsichtigt. Denn Heads ist Mäzen für Möglichkeiten nicht für Gegebenheiten. Weil alles, was zu früh in eine Schublade gesteckt wird, zum Keimfeld für stereotype Automatismen, für Bürokratie und für selbstzufriedene Behäbigkeit wird. Die Editionen von Heads passen darum so schlecht in eine Schublade. Sie passen nicht in einen geschmeidigen Zeitgeist. Manchmal passen sie nicht einmal so richtig an die Zimmerwand, wollen überhaupt nirgends so richtig passen.

Wenn allenorten die Struktur im Dunkeln bleibt, die Hilfslinien verwischt sind und die «Unterweisung» fehlt, an was soll man sich da halten? Haben wir nicht schon genug Chaos in dieser Welt? Muss uns da die Kunst noch weiter den Boden unter den Füssen weg nehmen?

In den USA gibt es Unternehmen, die letztere Frage mit einem klaren Ja beantworten. Sie stellen Manager frei, die dann für eine bestimmte Zeit in kulturellen Institutionen arbeiten. So finden Auseinandersetzungen mit neuen Realitäten statt. Sichtweisen werden gesamtheitlicher, Ideenfindungen im Business-Prozess werden kreativer. Und trotzdem entsteht eine neue Art Bodenhaftung. Man schliesst Freundschaft mit dem Chaos.

Für die alten Griechen war das Chaos ein düsterer Weltenraum. Der Ursprung allen Seins. Finster, unermesslich, und – welch‘ Paradoxon – leer. Aus diesem «Nichts» entstand der geordnete Kosmos. Im Hebräischen nannte man Chaos «Tohu wabohu». Doch warum, so stellt sich die Frage, soll diese Quelle allen Seins bedrohlich und gefährlich sein? Weil es unvorstellbar ist.

Selbst das grösste «Tohu wabohu» auf unserem Schreibtisch lässt noch – zumindest für den Besitzer – eine geheime Ordnung erkennen. Da ist eine Ahnung, dass im zweiten Stapel von links, irgendwo in der Mitte, das Dokument zu finden ist, das man demnächst braucht. Die Kunst, zu finden besteht darin, eine Ahnung zu haben.

Genau das ist der immer wieder neue Anstoss für die Edition Heads: Die Kunst soll helfen, sich mit den Prozessen des Findens vertraut zu machen. Sie soll die Angst nehmen vor dem Ungeahnten und die Sensoren trainieren für das Ahnen. Niemand soll die Werke «verstehen» müssen. Aber wenn es damit gelingt, eigene, festgefügte Hilfslinien und Strukturen ein wenig zur Seite zu legen, um sich auf bisher unbetretenes Gelände zu wagen, dann wird Energie für neue Möglichkeiten frei gesetzt. Wie heisst es in der Vorrede von Nietzsches Zarathustra: «Ich sage euch: man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.»

Nur: das Gebären braucht Zeit. Und es setzt ein Schwangergehen voraus, ebenfalls mit mehr oder weniger langem Zeitraum. Von einem kurdischen Stamm auf dem Balkan wird berichtet, dass die Kleinkinder bis sie fast zweijährig sind, herumgetragen werden. Dann aber können sie praktisch sofort Laufen. Durch Beobachten und körperliches Mitspüren über Monate hinweg haben sie das Gehen wie verinnerlicht. Von europäischen Musikern, die mit afrikanischen Trommlern zusammenarbeiten, wird immer wieder erzählt, wie sie anfänglich genervt werden durch die Zeit, die diese mit «Nichtstun» verbringen. Während die europäischen Musiker einen neuen Rhythmus einüben, sitzen ihre afrikanischen Kollegen herum, lesen vielleicht Zeitung, schauen in den Himmel, um dann, urplötzlich, die Trommeln vorzunehmen und den neuen Rhythmus spielen, als hätten sie ihn schon jahrzehntelang gekannt. Von Leonardo da Vinci weiss man, dass er oft Wochen und Monate durch die Gegenden um Florenz, Mailand und Venedig streifte, im Gras lag, den Lichtflecken der Sonne zwischen den Blättern zuschaute, um irgendwann zu notieren: «Es wird Wagen geben, die von keinem Tier gezogen werden und mit unglaublicher Gewalt daherfahren.»

Jetzt soll niemand daraus schliessen, dass die Auseinandersetzung mit den Kunstwerken der Edition Heads zu neuen Erfindungen führen würde. Es kann kein Haftungsanspruch gestellt werden. Es nützt nichts, zu Risiken und Nebenwirkungen Ihren Arzt oder Apotheker – oder Psychiater zu befragen. Wer sich auf moderne Kunst einlässt, soll es zweckfrei angehen, ohne irgendein direktes Ziel erreichen zu wollen. Ohne den heimlichen Wunsch, dadurch ein neues, unentschlüsselbares Codierungssystem zu erfinden, oder einen neuen Compositzement mit vorprogrammiertem Recycling-Katalysator.

Für Heads ist die Edition Bekenntnis zu den Schleichwegen der Kreativität. Zu den Ressourcen des Schöpferischen. Es werden Energien frei gesetzt. Nur schon das ist Motivation genug, sich mit neuen Künstlern auseinander zu setzen. Energien können sich irgendwann verdichten und irgendwann Materie bewegen. Energien können aber einfach auch fliessen und Kontakte schaffen. Ob man die Leute um Mike Stillhard dann Mäzene nennt, oder Sponsoren oder patrons of the arts, ist dann völlig nebensächlich. Wenn nur der Anspruch der Authentizität und der Qualität gewahrt bleibt. Mit der sisypusähnlichen Anstrengung, das Beste zu wollen. Wie es Leonardo da Vinci auf seinem Totenbett ausdrückte: «Ich habe Gott und die Menschen beleidigt, weil meine Werke nicht so gut geworden sind, wie sie hätten sein können.»

Helmut W. Rodenhausen, Zürich, 2004

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